Aktuelles / Top-Thema

Insolvenzanfechtung: Zur neuen Rechtsprechung des BGH

Die Rechtsprechung des für das Insolvenzrecht beim Bundesgerichtshof (BGH) zuständigen IX. Zivilsenats zur sogenannten Vorsatzanfechtung gemäß § 133 InsO hat Gläubigern in den vergangenen Jahren großes Kopfzerbrechen bereitet. Die Einräumung großzügiger Zahlungsbedingungen an Abnehmer, die sich – oft nur vorübergehend – in einer angespannten finanziellen Situation befinden, geriet mehr und mehr zum unkalkulierbaren Risiko. Nach Übernahme des Vorsitzes des Senats durch Prof. Godehard Kayser hatte sich in dem Bemühen, Insolvenzverwaltern den Nachweis illegitimen Zusammenwirkens des späteren Insolvenzschuldners mit einzelnen Gläubigern zu erleichtern, eine mit dem Gerechtigkeitsempfinden oft nicht mehr zu vereinbarende „Vermutungsrechtsprechung“ entwickelt,  der es noch dazu an klaren Strukturen und verlässlichen Regeln fehlte, auf die die Betroffenen sich hätten einstellen können. Prof. Kayser hat sich Mitte 2020 in den Ruhestand verabschiedet.

Unter seinem Nachfolger Dietmar Grupp hat der IX. Zivilsenat in einer vielbeachteten BGH-Entscheidung IX ZR 72/20 vom 6. Mai 2021 ausdrücklich die Abkehr von zentralen Pfeilern seiner bisherigen Rechtsprechung erklärt. Nachfolgend soll beleuchtet werden, was dies für betroffene Gläubiger bedeutet.

Die umfangreichen Leitsätze der Entscheidung lauten:

  1. Die Annahme der subjektiven Voraussetzungen der Vorsatzanfechtung kann nicht allein darauf gestützt werden, dass der Schuldner im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung erkanntermaßen zahlungsunfähig ist. (Rn. 30)
  2. Der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners setzt im Falle der erkannten Zahlungsunfähigkeit zusätzlich voraus, dass der Schuldner im maßgeblichen Zeitpunkt wusste oder jedenfalls billigend in Kauf nahm, seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht vollständig befriedigen zu können; dies richtet sich nach den ihm bekannten objektiven Umständen. (Rn. 31)
  3. Für den Vollbeweis der Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners muss der Anfechtungsgegner im Falle der erkannten Zahlungsunfähigkeit des Schuldners im maßgeblichen Zeitpunkt zusätzlich wissen, dass der Schuldner seine übrigen Gläubiger auch künftig nicht wird befriedigen können; dies richtet sich nach den ihm bekannten objektiven Umständen. (Rn. 36)
  4. Auf eine im Zeitpunkt der angefochtenen Rechtshandlung nur drohende Zahlungsunfähigkeit kann der Gläubigerbenachteiligungsvorsatz des Schuldners in der Regel nicht gestützt werden. (Rn.39)
  5. Eine besonders aussagekräftige Grundlage für die Feststellung der Zahlungseinstellung ist die Erklärung des Schuldners, aus Mangel an liquiden Mitteln nicht zahlen zu können; fehlt es an einer solchen Erklärung, müssen die für eine Zahlungseinstellung sprechenden sonstigen Umstände ein der Erklärung entsprechendes Gewicht erreichen. (Rn.41)
  6. Stärke und Dauer der Vermutung für die Fortdauer der festgestellten Zahlungseinstellung hängen davon ab, in welchem Ausmaß die Zahlungsunfähigkeit zutage getreten ist; dies gilt insbesondere für den Erkenntnishorizont des Anfechtungsgegners. (Rn.44)

Wie bereits diese Leitsätze vermuten lassen, hat sich der IX. Zivilsenat nach dem Wechsel des Vorsitzenden endlich mit den berechtigten Einwendungen betroffener Gläubiger gegenüber seiner Handhabung der Vorsatzanfechtung auseinandergesetzt.

So stellt der Senat in seiner Begründung (a.a.O. Rn. 31) zutreffend fest: „Die Rechtsprechung, wonach allein aus der vom Anfechtungsgegner erkannten Zahlungsunfähigkeit gefolgert wird, dieser sei in der Regel auch über den Benachteiligungsvorsatz des Schuldners im Bilde (BGH, Urteil vom 14. Juli 2016 – IX ZR 188/15, ZIP 2016, 1686 Rn. 14 mwN; st. Rspr.), bedarf einer neuen Ausrichtung. Entsprechendes gilt für die Feststellung des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes selbst“.

Unter Rn. 33 wird dann hierzu weiter ausgeführt: „Der Schluss von der erkannten Zahlungsunfähigkeit auf die subjektiven Voraussetzungen der  Vorsatzanfechtung führt im Falle der Gewährung kongruenter Deckungen zu einem weitgehenden Gleichlauf mit den Voraussetzungen der Deckungsanfechtung nach § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 InsO und damit faktisch zu einer Verlängerung des nach dieser Vorschrift maßgeblichen Anfechtungszeitraums von drei Monaten auf zehn Jahre nach altem Recht (§ 133 Abs. 1 Satz 1 InsO a.F.) und auf vier Jahre nach neuem Recht (§ 133 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 InsO). Das stößt nicht nur auf gesetzessystematische Bedenken. Auch ein entsprechender Wille des Gesetzgebers erscheint zweifelhaft“.

Mit dieser Feststellung folgt der BGH der vielfach geäußerten Kritik an seiner bisherigen Rechtsprechung und beseitigt die weitgehend unterschiedslose Handhabung der Voraussetzungen von § 130 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 InsO und § 133 Abs. 1 S. 1 InsO im Falle der Deckungsanfechtung.

Der BGH sucht in seiner Entscheidung den Ausweg zunächst über eine Neuausrichtung seiner Definition des Gläubigerbenachteiligungsvorsatzes. Danach reicht nicht (mehr) aus, dass der Schuldner weiß, dass er im Zeitpunkt der Vornahme der später angefochtenen Rechtshandlung nicht alle seine Gläubiger befriedigen kann. Entscheidend ist (jetzt), dass er weiß oder jedenfalls billigend in Kauf nimmt, dass er auch künftig nicht dazu in der Lage sein wird (a.a.O. Rn. 31).

Darüber hinaus bricht die Entscheidung auch ausdrücklich (Rn. 39) mit der bis dahin praktizierten „automatischen“ Ableitung der subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen des § 133 Abs. 1 InsO aus der erkannten Zahlungsunfähigkeit des Schuldners.

Hervorzuheben ist insbesondere, dass Deckungshandlungen im Stadium der drohenden Zahlungsunfähigkeit nur bei Hinzutreten weiterer Umstände künftig anfechtbar sein sollen.

Daran, dass von der erkannten Zahlungseinstellung auf die erkannte Zahlungsunfähigkeit geschlossen werden kann, wird zwar festgehalten, allerdings mit der Einschränkung, dass hinsichtlich der richterlichen Feststellungen insoweit erhöhte Maßstäbe angelegt werden. Fehlt es an einer (ausdrücklichen) Erklärung des Schuldners (wonach er zahlungsunfähig sei), müssen die für eine Zahlungseinstellung sprechenden Umstände ein dieser Erklärung entsprechendes Gewicht erreichen. Zahlungsverzögerungen allein – so der BGH – auch wenn sie wiederholt auftreten, reichen dafür häufig nicht“ (a.a.O. Rn. 41).

Weiterhin hält die Entscheidung zwar an dem Grundsatz fest, dass die Fortdauer der einmal eingetretenen Zahlungseinstellung zu vermuten ist (a.a.O. Rn. 43), stellt aber sogleich auch zutreffend fest (Rn. 44), dass die Vermutung in der Vergangenheit zu undifferenziert angewandt worden sei.

Schließlich stellt die Entscheidung auch die bisherige Handhabung der Vernutungen im Zusammenhang damit infrage, dass der Schuldner gewusst oder jedenfalls billigend in Kauf genommen haben muss, seine anderen Gläubiger nicht vollständig befriedigen zu können, indem hier einer Differenzierung nach dem Ausmaß der Deckungslücke sowie deren zeitliche Perspektive der Vorzug gegeben wird (a.a.O. Rn. 46f.)

Insgesamt ist die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Rechtsprechung zur Vorsatzanfechtung durch den IX. Zivilsenat ausdrücklich zu begrüßen. Sie war lange überfällig und weist in die richtige Richtung. Allerdings bleiben nicht nur viele Fragen offen, sondern es fehlt über weite Strecken an praxistauglichen Vorgaben, an die sich Gläubiger künftig halten könnten.

Dort, wo mit der bisherigen Praxis der Beweiserleichterung durch Vermutungen gebrochen wird, stellt der Senat zumeist nicht etwa konkrete alternative Maßstäbe auf, sondern belässt es regelmäßig dabei, grob zu umreißen, was der Tatrichter beachten sollte, wenn er damit beschäftigt ist, die am Ende ihm überlassenen Feststellungen im konkreten Einzelfall zu treffen. (so z.B. a.a.O. Rn. 37 und 41). Insbesondere die Beantwortung der Frage, wann der Schuldner trotz erkannter Zahlungsunfähigkeit berechtigterweise davon ausgehen durfte, noch alle seine Gläubiger befriedigen zu können, bleibt ohne eindeutige Kriterien. Eine in der Praxis für die Untergerichte handhabbare Definition, wann „die „Krise noch nicht soweit fortgeschritten ist oder aus anderen Gründen berechtigte Hoffnung auf Besserung besteht“, lässt das Urteil vermissen. Hier besteht die Rechtsunsicherheit weiter.

Ein großes Fragezeichen bleibt insbesondere auch, wenn die Entscheidung schließlich zu dem Ergebnis gelangt: „Sieht das Berufungsgericht den Vollbeweis einer Kenntnis vom Gläubigerbenachteiligungsvorsatz nicht als geführt an, wird es die gesetzliche Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO a.F. in den Blick zu nehmen haben“ (a.a.O. R. 49).

Die weiteren Feststellungen hierzu (a.a.O. Rn. 50f.) lassen insoweit „alles beim Alten“. Ausreichend für den Beweis der Tatbestandsvoraussetzungen durch den Verwalter soll danach am Ende alleine sein, dass der Anfechtungsgegner die maßgeblichen Umstände kannte, die auf eine (drohende) Zahlungsunfähigkeit schließen lassen. Dass der Gläubiger damit gerechnet hat, dass andere Gläubiger benachteiligt werden sollen – jedenfalls dann, wenn der Schuldner unternehmerisch tätig ist – ebenfalls auch zukünftig vermutet werden.

Der Senat schließt mit dem Hinweis, dass er zu weiteren Hinweisen derzeit keinen Anlass sähe (a.a.O. Rn. 51). Deutlicher kann kaum zum Ausdruck gebracht werden, dass man sich für die Zukunft alles offenhalten möchte.

Für eine Entwarnung betroffener Gläubiger ist es also, bei aller Sympathie für die Entscheidung, noch zu früh. Diese sind weiterhin gut beraten, größte Vorsicht im Umgang mit finanziell angeschlagenen Kunden walten zu lassen. Wichtiger noch als zuvor ist es, mit den zur Verfügung stellenden Instrumentarien wie etwa dem Bargeschäft oder der durch die (von PASCHEN begleitete) Anfechtungsreform privilegierten Zahlungsvereinbarung professionell umgehen zu können. Letzterer dürfte durch die mit der Entscheidung postulierten Änderungen der Rechtsprechung bei gleichzeitigem Festhalten an den Wirkungen der gesetzlichen Vermutung des § 133 Abs. 1 Satz 2 InsO (Anmerkung: neue Fassung entspricht der alten Fassung) in Zukunft noch größere Bedeutung zukommen.

Mehr zum Thema Insolvenzanfechtung finden Sie hier. Alle Informationen zur anfechtungsrechtlichen Privilegierung von Zahlungen während der Krise durch das COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz (COVInsAG) finden Sie in unserem Top-Thema hierzu.